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Die Urprinzipien

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Dr. phil. Elmar Basse

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Die Urprinzipien

Die Frage nach dem Urgrund der Dinge beantwortet der griechische vorsokratische Philosoph Thales (624-546 v. Chr.) mit dem von ihm geprägten Satz, „dass das Wasser der Ursprung und Mutterschoß“ von allem sei1.


Das scheint ein „ungereimter Einfall“ zu sein, wie Friedrich Nietzsche sogleich notiert. Natürlich weiß ja jedes Kind, dass es viel Wasser auf der Welt gibt. Der Mensch selbst besteht aus Wasser zu deutlich mehr als 50 Prozent. Aber, so wird man gleich einwenden wollen, ist doch deshalb nicht alles Wasser! Die Erde selbst ist doch kein Wasser!


Ist das einfach nur naiv, wenn man im Wasser den Ursprung sieht? So wird es heute verbreitet betrachtet. Man sieht die alten Griechen wie Kinder, die noch abergläubisch waren. Wir dagegen sind erwachsen und erkennen die Dinge viel klarer, wie sie nämlich in Wirklichkeit sind. In der Antike stecke das Wissen eben noch in den Kinderschuhen, ihre Ansichten wirken skurril.


Übrigens ist das eine ähnliche Sicht, die viele im Blick auf Esoteriker oder Spirituelle haben oder auch auf solche Menschen, für die die Religion wichtig ist: Sie seien eben ein bisschen naiv, würden an kindliche Dinge glauben. Aber, so wird ihnen zugestanden, wenn es ihnen im Leben helfe, könnten sie ja ruhig dabei bleiben. Sie sollten nur bitte darauf verzichten, sich ernsthaft zu Wort zu melden, wenn die Erwachsenen diskutieren.


Nun hat man darauf hingewiesen, dass Thales kein Naivling war, vielmehr ein durchaus praktischer Mensch, der „auf Grund seiner Himmelskunde mit weit vorausschauender Spekulation den Ertrag einer reichen Olivenernte des ganzen Landstriches von Milet bis Chios ausbeutet oder der noch am Abend seines Lebens durch Verlegung des Flussbettes des Halys dem Heer des Krösus den Übergang ermöglicht2.


Betrachten wir Thales‘ Satz genauer, so ist er keine Hypothese darüber, dass aus dem Wasser die Erde entstehe bzw. die Lebewesen. Ein solcher Satz hätte nämlich zu lauten, dass aus Wasser Erde werde. Das hätte man zu überprüfen und würde die Falschheit schnell entdecken. Thales sagt dies aber nicht, sondern er behauptet stattdessen, dass das Wasser der Ursprung sei.


In dem von Thales gesprochenen Satz steckt tatsächlich Folgendes: dass es etwas Bestimmtes gebe, in dem alles enthalten sei, und dass dies das Wasser sei. Daraus erschließt sich: „Alles ist eins.“


Wir Menschen sehen die Vielheit der Dinge, vermögen aber nicht zu erkennen, dass in ihr ein Urprinzip wirkt. Thales stößt uns mit der Nase darauf: Lass dich nicht blenden von der Vielheit, sonst siehst du das innere Wirkende nicht, den Urgrund oder das Urprinzip.


Vor Thales war die Frage eher, was am Anfang der Welt war und wie daraus die Welt entstand. Die Antwort lautete dann stets, dass die Götter die Welt erschufen. Das ist aber weder die Frage noch die Antwort, die Thales gibt.


Wenn Thales im Wasser den Ursprung sieht, so steckt darin primär die Idee, „dass hinter dem Wechsel der Erscheinungen, wie ihn gerade das Leben der Natur in Sommer und Winter, Blühen und Verwelken, Geburt und Tod zeigt, ein allen Dingen gemeinsamer, schlechthin unzerstörbarer, in seinem innersten Wesen ewig unveränderlicher Urgrund steht, der, in tausendfältiger Wandlung begriffen, die Dinge aus sich hervorbringt, aber auch seinerzeit wieder in sich zurücknimmt und so den in Wahr­heit zeitlosen Weltprozess verursacht3.


Natürlich muss man die Frage nicht stellen - die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nur nichts; die Frage nach dem Urgrund der Dinge. Die meisten stellen sie ja auch nicht. Wer sie aber in den Raum stellt, wird an ihren Konsequenzen nur schwer vorbeigelangen können.


Etwas abstrakter schreibt der griechische Philosoph Aristoteles später über die Vorsokratiker:


„Von denen, die zuerst philosophiert haben, haben die meisten geglaubt, dass es nur stoffliche Urgründe der Dinge gebe. Denn woraus alle Dinge bestehen, und woraus sie als Erstem (d.h. ursprünglich) entstehen und worein sie als Letztes (d.h. schließlich) vergehen, indem die Substanz zwar bestehen bleibt, aber in ihren Zuständen wechselt, das erklären sie für das Element und den Urgrund (Arché) der Dinge, und daher glauben sie, dass weder etwas (aus dem Nichts) entstehe noch (in das Nichts) vergehe, in der Meinung, dass eine solche Substanz immer erhalten bleibt … Denn es muss eine gewisse Substanz vorhanden sein, entweder eine einzige oder mehrere, aus denen alles übrige entsteht, während sie selbst erhalten bleibt. Über die Anzahl und die Art eines solchen Urgrundes haben freilich nicht alle dieselbe Meinung, sondern Thales, der Begründer von solcher Art Philosophie, erklärt als den Ursprung das Wasser …“4


Die Frage, warum überhaupt etwas ist, kann nicht sinnvoll beantwortet werden, indem man beispielsweise sagt: Es entstehe einfach so, eben aus dem Nichts heraus. Denn aus dem Nichts, wie Aristoteles sagt, kann eben überhaupt nichts entstehen. Darum ist es ja das Nichts.



Analogieketten

Die Welt der Erscheinungen für uns zu ordnen (auf eine hilfreiche, sinnvolle Weise) ist der Kern des Denkens des Menschen, sei es alltagsweltlich oder aber technisch und wissenschaftlich geprägt.


Das bedeutet aber mit Thales, dass das Urprinzip des Wassers auf allen Ebenen wirksam ist und sich überall realisiert. Wenn wir unsere Welt betrachten, können wir Analogieketten bilden: Auf verschiedenen Ebenen finden wir etwas Gemeinsames, etwas sie Verbindendes.


Farben, die flussgrün oder eisblau sind; Formen, die fließend, verwaschen sind; Gerüche, die betäubend, narkotisch sind; Geschmack, der wässrig, milchig ist; Materialien, die flüssig sind, außerdem leicht und zerbrechlich; Landschaftsformen wie den Regenwald, Seengebiete, Küstenlandschaften; Wet­ter, das unbeständig und wechselhaft ist, oder auch nasskühles Wetter; Orte wie ein stiller See oder das Ufer eines Baches; menschliches Denken und Fühlen, das eher romantisch, verträumt, stim­mungsabhängig ist; Berufe wie die in der Pflege oder im Bereich Therapie, in denen Einfühlung wichtig ist, ebenso wie Fürsorge … …5


Wasser - das ist das Prinzip des Fließens, des Fühlens, der Stimmungen, auch des Unbewussten im Menschen - finden wir in den verschiedenen Ebenen in der Welt realisiert. In der analogen Verkettung erahnen wir das Gemeinsame, und zwar ist das das Urprinzip, das sich dort immer materialisiert.


Umgekehrt können wir, vom Urprinzip ausgehend, unsere Welt für uns sortieren. Mittels des analogischen Denkens haben wir Grund zu der Annahme, dass z.B. ein Mensch mit Flugangst auch in seinem sonstigen Leben gewisse Eigenschaften aufweisen könnte: eine gewisse Verletzlichkeit; eine Neigung zu Stimmungsumschwüngen, die recht plötzlich erfolgen können; eine gewisse Feinfühligkeit; eine leichte Kränkbarkeit; Introvertiertheit und wohl eher kein Klassenclown oder sehr dominant auftretender Mensch; eine starke Neigung zum Grübeln und zu innerer Anspannung …


Die Liste ließe sich fortführen. Was dabei zu beachten ist: Sie liefert immer nur Anhaltspunkte. Das liegt einfach schon daran, dass es, anders als es Thales meinte, nicht nur ein einziges Urprinzip gibt. Je nach „Mischungsverhältnis“ im Menschen wird sich der Einzelne jeweils zeigen. In der Betrachtung des einzelnen Menschen werden sich Merkmale ergeben, die nicht dem „einen“ Prinzip entsprechen.

Genau genommen ist es so, dass jedes einzelne Urprinzip auf seine Entfaltung drängt, aber im konkreten Erleben überschattet werden kann, wenn andere Urprinzipien stärkere Wirkung im Menschen entfalten.





Anmerkungen:

1) Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Kindle, Pos. 49102

2) Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 67

3) a.a.O., S. 7

4) a.a.O., S. 71

5) Nach Rüdiger Dahlke: Das senkrechte Weltbild, München 1986


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