Vielen Menschen sind heute bekanntlich die Wege zum Spirituellen versperrt. Zwar sind die Angebote da, und die Wege sind prinzipiell offen. Die Blockade ist eine mentale, für die jedoch der einzelne Mensch keineswegs die Verantwortung trägt.
In weiten Bereichen der Öffentlichkeit herrscht ein gewisser Materialismus, dem sich der jeweils einzelne Mensch oft nur schwer entziehen kann.
Das materialistische Prinzip lautet so: Was ich nicht sehe (oder sonst sinnlich wahrnehmen kann), das ist auch überhaupt nicht da.
Das heißt dann in der Schulmedizin: Man akzeptiert Medikamente nur dann, wenn sie „klinisch getestet“ sind, das heißt als „wirksam“ bezeichnet werden.
Dass das in keiner Weise bedeutet, dass der Einzelne annehmen kann (jedenfalls nicht mit guten Gründen), dass sie bei ihm wirken werden, habe ich schon früher erklärt (Alternativmedizin und Schulmedizin). Dass Medikamente den Menschen helfen, obwohl sie nicht als „wirksam“ gelten, ist für die Schulmedizin inakzeptabel, sie kann es sich nur als Placebo erklären.
Menschen, die sich zum Spirituellen bzw. zum Religiösen bekennen, sehen sich oft wie Kinder behandelt. Sie mögen ihren Glauben ausleben, wenn es ihnen eben helfe. „Wenn du dran glaubst und es dir hilft, dann ist es doch für dich ok“ – aber „in Wirklichkeit“ sei es ja Quatsch, man sei eben ein bisschen naiv. Die „Erwachsenen“ lächeln herab.
Dabei wird dann übersehen, dass alles Spirituelle und Religiöse immer einen Ursprung hat, und der hat nichts mit „Glauben“ zu tun.
Was später zur Religion gerinnt, ist am Anfang eine Erfahrung, die einer oder Einzelne machen und die sie als real erleben. Es sind „Erweckungserlebnisse“, in denen sie eine „Erscheinung“ haben und eine „höhere Macht“ sich zeigt. Es wird dann auch von „Wundern“ berichtet. Sie sind der Kern, der Ursprungsgehalt.
Wer spirituelle Wege ablehnt, muss ehrlicherweise leugnen können, dass es diese Erfahrungen gab, oder sie anderweitig erklären, z.B. als pure Einbildungen.
Nun ist es tatsächlich so, dass die Begründer von Religionen sehr häufig das „Opfer ungewöhnlicher psychischer Heimsuchungen“ waren:
„Ohne Ausnahme handelte es sich bei ihnen um Geschöpfe mit einer ausgeprägten emotionalen Sensibilität. Oft führten sie ein Leben voll innerer Zerrissenheit und litten in bestimmten Lebensphasen unter Melancholie. Sie kannten kein Maß, neigten zu Obsessionen und fixen Ideen; häufig fielen sie in Trance, hörten Stimmen, hatten Visionen und zeigten alle möglichen Eigenheiten, die man normalerweise als pathologisch klassifiziert. Im Verlauf ihres Lebens haben ichnen nicht selten gerade diese pathologischen Züge zu ihrer besonderen religiösen Autorität und ihrem Einfluss verholfen.“1
Das legt dann gleich die Annahme nahe, dass die „Erweckungserlebnisse“ nichts als Fantasien seien. Wer ein „Erweckungserlebnis“ hat, dem spielten die Nerven wohl einen Streich. Wer sich spirituell orientiert, habe psychische Probleme. Williams beschreibt die „Bemerkungen, die unsentimentale Menschen oft über ihre gefühlsbetonteren Bekannten machen“:
„Alfred glaubt so fest an die Unsterblichkeit, weil er ein so emotionales Temperament hat. Fannys ungewöhnliche Gewissenhaftigkeit ist nur eine Sache ihrer überreizten Nerven. Williams melancholische Gedanken über das Universum gehen auf seine schlechte Verdauung zurück – wahrscheinlich ist seine Leber krank. Elizas Freude an ihrer Kirche ist ein Ausdruck ihrer hysterischen Verfassung. Peter würde sich weniger Sorgen um sein Seelenheil machen, wenn er sich mehr an der frischen Luft bewegte etc.“2
Wer ganz ehrlich mit sich ist, wird in der eigenen Ablehnungs-Haltung vermutlich ganz ähnliche Urteile finden, die er über die Menschen hat. Es wäre wahrscheinlich nicht überraschend, dass er, vielleicht uneingestanden, sie als „überspannt“ betrachtet, als „weltfremd“, „naiv“, ein bisschen kindlich, emotional, gefühlsgetrieben. Wer an den „lieben Gott“ glauben würde, mit dem stimme wohl etwas nicht.
Vielleicht hängt man sich nicht so weit aus dem Fenster, wenn man tolerant sein will. Doch wer ernsthaft öffentlich auftritt und über seine „Erweckung“ spricht, über ein „Wunder“, das er erlebte, eine „wundersame Heilung“, dem ist Skepsis bis zum Spott sicher.
Gerade diese Erlebnisse bilden aber immer den Ursprung, aus dem das Religiöse ebenso wie das Spirituelle entsteht.
Den Apostel Paulus zum Beispiel wird man kaum als Lügner bezeichnen, immerhin starb er den Märtyrertod. Seine eigene Bekehrung erfährt er im „Damaskuserlebnis“, als er dem auferstandenen Jesus Christus auf dem Weg nach Damaskus begegnet.
Das gibt es doch nicht, denkt sich der Mensch (sofern er jedenfalls „aufgeklärt“ ist). Wenn es keine Lüge ist, kann es doch nur … Einbildung sein.
Da kommt eine Erklärung zu Hilfe, die die gewünschte Antwort liefert: Paulus war Epileptiker.
„Medizinischer Materialismus schließt mit dem heiligen Paulus ab, indem er seine Vision auf der Straße nach Damaskus eine Entladung aufgrund einer Läsion des Sehzentrums nennt: Paulus sei ein Epileptiker gewesen. Er erledigt die heilige Theresa als Hysterikerin, den heiligen Franz von Assisi als erbgeschädigt. Das Unbehagen eines George Fox an der Selbstgefälligkeit seiner Zeit und seine Sehnsucht nach Spiritualität behandelt er als Symptom einer Darmverstimmung. Carlyles Klagelieder führt er auf eine Entzündung der Magen- und Zwölffingerdarmschleimhäute zurück. Er behauptet, jede Art geistiger Überspanntheit ist letztlich nur eine Sache der Diathese, der Veranlagung (wahrscheinlich eine Form der Autointoxikation), verursacht durch die Dysfunktion von Drüsen, die die physiologische Medizin noch entdecken wird.“3
Man kennt das aus anderen Kontexten, es heißt dort Ad-hominem-Argument: Man versucht ein Argument abzuräumen, eine These wegzuwischen, ein Erlebnis vom Tisch zu fegen, indem man den Urheber diskreditiert:
- Friedrich Nietzsches philosophische Schriften kann man dadurch „erledigen“ (und das geschieht auch sehr verbreitet in der öffentlichen Debatte), dass man dem Menschen Nietzsche vorhält, dass er sich zum Ende des Lebens in einer geistigen Umnachtung befand, aber auch schon lange vorher an einigen psychischen Störungen litt.
- Alfred Adlers Theorie der Organminderwertigkeit und des Minderwertigkeitsgefühls sowie des daraus resultierenden Geltungsstrebens und persönlichen Machtanspruchs lässt sich dann daraus erklären, dass er selbst als Kind oft krank war und an Rachitis und einem Stimmritzenkrampf litt, „der ihn beim Weinen ohnmächtig werden ließ“. Alfred Adler war „‘ein kleiner Mann, der die Individualpsychologie begründete und sich besonders mit dem Thema der Minderwertigkeit beschäftigte‘, sagt die Pulheimer Psychotherapeutin Dunja Voos“.
- Sigmund Freuds Ödipuskomplex-Lehre erklärt sich durch die eigenen „ungewöhnlichen Familienverhältnisse“, die die „Neugier und Fantasie des kleinen Sigmund erheblich“ beflügelten. „Sie trugen schließlich dazu bei, dass er 40 Jahre später die Theorie vom Ödipuskomplex entwickelte und sie für ein ‚allgemeines Ereignis früher Kindheit‘ hielt, da er selbst mit der Verliebtheit in seine Mutter und der Eifersucht gegen den Vater und andere Konkurrenten ‚die packende Macht des Königs Ödipus‘ bei sich entdeckte.“4
Solche Ad-hominem-Argumente bringt man gegen andere vor – weniger angenehm ist es natürlich, wenn unsere eigenen Gedanken, unsere geistigen „Höhenflüge“ als bloßer Ausdruck des Körpers gelten. Wir würden es kaum akzeptieren, wenn etwas, das uns wichtig ist – eine Einsicht, ein Erlebnis –, dadurch beiseitegewischt werden würde, dass man uns erklären wollte, wir seien wohl gerade überspannt.
Wir würden mit Recht darauf beharren, dass unsere Erlebnisse und Gefühle sowie unsere Einsichten für sich selbst beanspruchen dürfen, dass man sich mit ihnen befasst, dass man sie ernst nimmt und vielleicht prüft, ob sie denn nicht wahr sein können, und zwar ganz unabhängig davon, auf welche Weise sie zu uns gelangten und in welchem Zustand wir waren.
Könnte es nicht vielleicht so sein, dass wir in einem Rauschzustand oder einem leichten Fieber eine wichtige Einsicht hatten, vielleicht eine Entdeckung machten? Der Hinweis auf unseren psychischen Zustand würde sie nicht per se schon entwerten.
Nun ist es allerdings tatsächlich so, dass gerade solche Ansichten, Erlebnisse, Gedanken und Gefühle durch andere diskreditiert werden können, wenn sie nicht als „normal“ erscheinen. Was dem Mainstream nicht entspricht, was sich nicht sinnlich wahrnehmen lässt, was sich nicht „beweisen“ lässt, das wird pathologisiert.
In dieser Gefahr steht das Spirituelle und alles, was religiös erscheint: Was sich nicht sinnlich wahrnehmen lässt, gibt es in dieser Weltsicht nicht. Wer sich trotzdem dazu bekennt, scheint irgendwie unnormal zu sein. Dass er sich dazu bekennen mag, ist dann ein Ausdruck seiner „Störung“.
In der wissenschaftlichen Diskussion ist das Ad-hominem-Argument aus guten Gründen nicht akzeptiert: Der persönliche Ursprung von Theorien besagt nichts über den Wahrheitswert. Die Freudsche Psychoanalyse wird immer noch weithin praktiziert und von den Kassen finanziert, Freuds eigene Familiengeschichte stellt nicht seine Methode infrage. Die Schriften, die Friedrich Nietzsche schrieb, zählen für die Philosophie immer noch zu den wichtigsten, trotz seiner psychischen Störungen.
Und „in den Naturwissenschaften und im Bereich der Technik passiert es nie, dass jemand versucht, bestimmte Ansichten mit dem Hinweis auf die neurotische Verfassung ihres Autors zu widerlegen. Individuelle Meinungen werden grundsätzlich durch Logik und Experiment überprüft, ganz gleich zu welchem neurologischen Typ ihr Verfasser zählt.“
Das gilt auch für das Spirituelle ebenso wie für Religion: „Die heilige Theresa kann das Nervensystem der sanftesten Kuh gehabt haben, und trotzdem würde es ihre Theologie nicht retten, wenn die weitere Prüfung sie aufgrund anderer Kriterien“ durchfallen ließe.“5
Diese Prüfung kann nur erfolgen, wenn man sich darauf einlassen kann, dieses Erfahrungsgebiet zu erforschen. Das ist auch bei vielem anderen so:
- Wie sich Liebe anfühlen kann und wie sie im Wesen beschaffen ist, kann nur dadurch erfahren werden, dass man ins Reich der Liebe eintritt. Dass einzelne Menschen sie leugnen können oder auch enttäuscht von ihr sind, sagt nicht, dass es sie nicht gibt.
- Dass das Leben sinnhaft sein kann, dass es Sinn im Leben gibt, kann nur dadurch erfahren werden, dass man ein sinnhaftes Leben führt. Der Weg kann voll von Irrungen sein. Nur indem er gegangen wird, kann es aber Entdeckungen geben, die den Lebenssinn enthüllen.
- Der Weg zur Spiritualität ist für Menschen nicht vorgezeichnet. Es gibt keine Betriebsanleitung und keine Wegbeschreibungen, die sicher zu dem Ziel hinführen. Erst indem man es unternimmt, sich diesen Weg allmählich zu bahnen, kann er für Menschen erfahrbar werden und seine Wirklichkeit enthüllen.
Anmerkungen:
1) William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt/M. 2014, S. 42
2) a.a.O., S. 45 f.
3) a.a.O., S. 46 f.
4) https://www.pragerzeitung.cz/irritierende-verhaeltnisse/
3) William James, a.a.O., S. 51